Ex literis: Der Liebhaber von Toni Morrison
Die alte Sklavin Baby Suggs wird durch ihren leiblichen Sohn freigekauft. Sie entschliesst sich darauf hin, nicht anderes mehr zu behalten als ihr grosses klopfendes Herz in ihrer Brust. Beinahe jeden Samstag geht sie in den nahen Wald, gefolgt von einer Schar Frauen, Männern und Kindern – alles ehemalige Sklaven. Sie treffen sich auf einer Lichtung, wo alle von Baby nach einem kurzen Gebet dazu aufgerufen werden, zu lachen, zu tanzen und zu heulen.
Und die Hände gern zu haben, die so lange Schweres ausführen mussten. So auch das eigene Antlitz, das man in den Augen Anderer lächerlich wähnte, weil es nie Anerkennung und Wertschätzung entgegennehmen durfte. Die Hände sollten ihren Rücken streicheln, der so viel Geisel und Prügel erduldete. Ein unstreitbar scheinendes Recht, denn gerade er hat unsere Anerkennung und Liebe nötig – unser stolzer Rücken.
Baby Suggs macht so lange weiter, bis sie jeden Zentimeter des Körpers mit adäquater Streicheleinheit beglückt hat.
Diese sehr bewegende Passage ist einem traurigen, beklemmenden Buch entnommen, der doch Wunderbares herausschält: das Entdecken der Eigen- oder Selbstliebe. Und die Gruppe Sklaven erscheint – auf unsere Vorstellungsweise umgemünzt – uns doch sehr vertraut. Als Sklaven würden wir uns sicher nicht bezeichnen, doch eines bleibt uns gemein: der Mangel an Selbstliebe. Schon Religionen in unserem Kulturkreis fordern deutlich: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!
Eigen- oder Selbstliebe ist ein – oder das – Basisbedürfnis eines jeden Menschen – eine existenzielle Bedingung, deren Ausbleiben uns verkümmern lässt. Ohne Eigenliebe ziehen wir uns den Boden unter den Füssen weg; wir entziehen uns gleichzeitig das Recht, dazusein.
Diese Sklavenmutter macht uns aber auch anderes deutlich. Nicht die rührige Beschäftigung mit uns selbst, der meist ein Austausch mit anderen Menschen abgeht und die uns gern in unergründliche Tiefen verlieren lässt, verschafft uns Daseinsberechtigung. Nein, ein Zelebrieren in der Gemeinschaft ist angezeigt. Es scheint ein Ritual, und Baby Suggs lebt uns vor, wieder uns selbst zu lieben und damit einem menschenfremden Zirkel der Unterordnung abzusagen.
Der Ausgangspunkt aller Kraft ist Eigenliebe; wir sind unser ureigenster Energiebrunnen und doch kein Perpetuum mobile: Je mehr Aufmerksamkeit wir unseren Bedürfnissen schenken und dieselben mit Liebe anerkennen, umso mehr erleben, entdecken wir diesen eigentlichen Urquell in uns, und auch, was ihn dauerhaft nährt.
Menschen unter Menschen: Uns lieben heisst auch lieben, was und wie wir sind. Gerade durch dieses erwachende vorbehaltlose Empfinden ermöglichen wir uns das, was uns zum wahren Menschen macht – zum liebenden Menschen (Homo amans – und uns definitiv von den Tieren unterscheidet). Uns selbst zu lieben, setzt in uns Kraft in mannigfaltiger Ausrichtung frei. Andere zu lieben, setzt Kräfte fürs Erwirken und Erreichen weit bedeutender, gemeinsamer Absichten frei.
Löst ein kaltes, nacktes Verlangen meist kaum mehr als ein Swappen aus, vermittelt die richtige Portion Liebe Treibstoff unerahnten Ausmasses. Das Ausmass wird meist erst viel später fassbar, wenn sich uns neue Türen öffnen, steinig vermutete Wege sich hindernisfrei überwinden lassen und uns gar sehnlich herbei gehoffte Chancen in den Garten des eigenen Schaffens fallen!
13.12.5