Kategorie-Archiv: Florilegium

eine Flut von Eindrücken – im Anhang an Alfonsina Stornis Poemas

Die Eindrücke verlieren sich in den Worten, nein – mit den Worten, wenn sie aus Mündern purzeln, dem Menschen gleichsam entgleiten. Auch verwirken sie bald, im Aussen, wie im Innern. Ach wie schade, klingen und singen sie nicht dem, der sie von sich gab.
Gelang es uns im Ausdruck Empfindungen, Regungen zu fassen, hilft nur Achtsamkeit, sie aneinander zu reihen, ein Bild durchzuzeichnen und so als wachsendes Ganzes lebendig zu halten, und alle Gefühle anverhaftet zu lassen. Damit wach zu behalten, um zu verstehen: Sinn und Deutung uns kundzutun, uns zu offenbaren. Alsdann zu entschwinden, während positive Gefühlskomplexe und Sinnhaftigkeit sich verankern. Niemand sonst schert sich darum …

Tous les matins du monde sont sans retour – der einzig wahre wirkliche Moment im Leben

Was ist hauchdünn und doch so breit und tief? Der Moment, der sich eben zwischen Zurückliegendem, Vergangenem und dem, was gleich kommen wird, noch ungewiss, schieben wird. Die Gegenwart, dieser kurze wundervolle Moment, in dem sich die ganze Wirklichkeit offenbart, der genau betrachtet eigentlich immer währt. Nun, diese Pracht wird uns meist nur knapp zuteil, weil sich ankündigende Schatten oder Verheissungsvolles anberaumen. Andernteils sind da ausklingende Eindrücke und beschäftigende Wahrheit dessen, was uns noch eingenommen hat.

Lasst uns dieses hauchdünne Etwas geniessen, ungehemmt in vollen Zügen, unverdrossen, dass nebst weniger Gefreutem auch Schönes unwiderruflich gegangen ist und gleichwohl unbeeindruckt davon, was wir zu gewärtigen haben.
Die Ungewissheit, weil teilweise unvorhersehbar, was auf uns zukommen wird, sicher auch Gutes tuend, doch ob drohendem Widersinn …

Ein kurzer Abstecher ins Bewusstsein – wozu auch?! Ein geradezu angebrachter längerer Aufenthalt, davon ganz zu schweigen; die platzierte Wertigkeit sei insofern erlaubt, als dass nicht Erwartungen und Bedürfnisse des Schreibenden sich in Vordergrund bewegen wollen. Nein, vielmehr geht es darum, sich vor Augen zu führen … . Verlangen doch neu eintreffende Eindrücke unsere volle Aufmerksamkeit, dass uns ja keiner entgehen werde. Doch gerade das Gewahrwerden und –nehmen verlangt Aufmerksamkeit, die wir benötigen, um gegenüber den Eindrücken, den Sinneswahrnehmungen Stellung zu nehmen, sie mit unseren Absichten sowie deren Realisierungsformen zu konfrontieren oder schlicht die Auseinandersetzung mit unserer Umwelt, all deren noch ungewerteten Emissionen zu suchen. Warum? –Auf das soll später eingegangen werden.

Und da sitzen wir dann, mit einem Haufen unverarbeiteter Sinneseindrücken, wegen deren dichten Eintreffen oder deren Intensität. Die Behauptung sei gewagt, verdeutlicht durch die englische Ausdrucksweise „I lost my mind“, dass uns latent ein Zustand drohender Verrücktheit droht. Schützen wir uns vor konnotativen Begrifflichkeiten, gleichsam Unzulänglichkeiten: Verrücktheit bedeutet, dass wir Wirklichkeiten zu Gunsten geschützter Wahrheiten verzehrt und verschroben aufnehmen und sie dünn wahr werden lassen. Blenden und Filter helfen uns in positiver Hinsicht, das Auslassen von Stellungnahmen und das Vermeiden, Situationen und uns darin zu hinterfragen, schützen wohl mehr davor, die Energie dem vermeintlich Interessanten oder im Bezug zu unseren oberflächlich lockenden Vorstellungen, dem Attraktiven zu entziehen.
Zum Ausgang, bzw. zum eingeschlagenen Weg zurückkehrend, erscheinen dann, den Menschen im Sein und Handeln lauschend, Ausdrücke an unserer auditiven Eingabestelle, die keinen Bezug mehr zu den eigentlichen Impressionen der Sprechenden darstellen, sondern lediglich, welche Wort- oder Begriffskombinationen sie dazu abgelegt haben. Nun die Wirklichkeit wird von allen Menschen selektiv aufgenommen, oder selektiv weiter gegeben, – weiteren Beurteilungen sei hier Einhalt geboten, doch die Wirklichkeit bleibt eigentlich für alle dieselbe. Sie formt sich erst hinter Organen, irgendwo zwischendurch, damit sie alsdann in uns als Wahrheit wach wird. Die Wachheit schliesst gleich alle Bewusstseinsgrade mit ein, und am Rande bemerkt, wohl ohne Bezug auf deren Ausdehnungen, die grosse Scheinwelt der Affekte, Neuröschen und aller kleinen Aberrationen aus dem Überschneidungsbereich von Gefühlen, Emotionen (Unbewusstem) oder noch Unterbewusstem …

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen
mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen
der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht
so ist er mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht

Andreas Gryphius, 1671 -1714

Für die Perlenprinzessin auf dem weissen Elefanten

aus: der Liebhaber von Toni Morrison

Die alte Sklavin Baby Suggs wird durch ihren leiblichen Sohn freigekauft. Sie entschliesst sich darauf hin, nicht anderes mehr zu behalten als ihr grosses klopfendes Herz in ihrer Brust. Beinahe jeden Samstag geht sie in den nahen Wald, gefolgt von einer Schar Frauen, Männern und Kindern – alles ehemalige Sklaven. Sie treffen sich auf einer Lichtung, wo alle von Baby nach einem kurzen Gebet dazu aufgerufen werden zu lachen zu tanzen und zu heulen.
Und die Hände gern zu haben, die so lange Schweres ausführen mussten. So auch das eigene Antlitz, das man in den Augen Anderer lächerlich wähnte, weil es nie Anerkennung und Wertschätzung entgegennehmen durfte. Die Hände sollten ihren Rücken streicheln, der so viel Geisel und Prügel erduldete. Ein unstreitbar scheinendes Recht, denn gerade er hat unsere Anerkennung und Liebe nötig – unser stolzer Rücken.
Baby Suggs macht so lange weiter, bis sie jeden Zentimeter des Körpers mit adäquater Streicheleinheit beglückt hat.

Diese sehr bewegende Passage ist einem traurigen, beklemmenden Buch entnommen, der doch Wunderbares herausschält: das Entdecken der Eigen- oder Selbstliebe. Und die Gruppe Sklaven erscheint, auf unsere Vorstellungsweise umgemünzt, uns doch sehr vertraut. Als Sklaven würden wir uns sicher nicht bezeichnen, doch eines bleibt uns sicher gemein: der Mangel an Selbstliebe. Schon Religionen in unserem Kulturkreis fordern deutlich: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!

Eigen- oder Selbstliebe ist ein – oder das – Basisbedürfnis eines jeden Menschen – eine existenzielle Bedingung, deren Ausbleiben uns verkümmern lässt. Ohne Eigenliebe ziehen wir uns den Boden unter den Füssen weg; wir entziehen uns gleichzeitig das Recht, dazusein.

Diese Sklavenmutter macht uns aber auch anderes deutlich. Nicht die rührige Beschäftigung mit uns selbst, der meist ein Austausch mit anderen Menschen abgeht und die uns gern in unergründliche Tiefen verlieren lässt, verschafft uns Daseinsberechtigung. Nein, ein Zelebrieren in der Gemeinschaft ist angezeigt. Es scheint ein Ritual, und Baby Suggs lebt uns vor, wieder uns selbst zu lieben und damit einem menschenfremden Zirkel der Unterordnung abzusagen.
Der Ausgangspunkt aller Kraft ist Eigenliebe; wir sind unser ureigenster Energiebrunnen und doch kein Perpetuum mobile: Je mehr Aufmerksamkeit wir unseren Bedürfnissen schenken und dieselben mit Liebe anerkennen, umso mehr erleben, entdecken wir diesen eigentlichen Urquell in uns, und auch, was ihn dauerhaft nährt.
Menschen unter Menschen: Uns lieben heisst auch lieben, was und wie wir sind. Gerade durch dieses erwachende vorbehaltlose Empfinden ermöglichen wir uns das, was uns zum wahren Menschen macht – zum liebenden Menschen (Homo amans – und uns definitiv von den Tieren unterscheidet). Uns selbst zu lieben, setzt in uns Kraft in mannigfaltiger Ausrichtung frei. Andere zu lieben, setzt Kräfte fürs Erwirken und Erreichen weit bedeutender, gemeinsamer Absichten frei.
Löst ein kaltes, nacktes Verlangen meist kaum mehr als ein Swappen aus, vermittelt die richtige Portion Liebe Treibstoff unerahnten Ausmasses. Das Ausmass wird meist erst viel später fassbar, wenn sich uns neue Türen öffnen, steinig vermutete Wege sich hindernisfrei überwinden lassen und uns gar sehnlich herbei gehoffte Chancen in den Garten des eigenen Schaffens fallen!

aé, 13.12.5